Schwarzes Meer und bunte Städte
- Eine Fotoserie findet sich unter Bilder Ukraine & Moldawien 2016
Chorreise der Jungen Kantorei Freiburg und der Heidelberger Studentenkantorei nach Lemberg, Odessa und Chişinău 2016
Wie weit ist Osteuropa entfernt? Geographisch liegt das westukrainische Lemberg/Lviv/Lwow näher als Dublin oder Stockholm. Odessa am Schwarzen Meer oder Chişinău in der Republik Moldau sind näher als Athen oder Mittelschweden. Aber „gefühlt“? Chişinău?!
Entschleunigung im Kurswagen –
Abgekuppelt sein gehört dazu
Die gefühlte Nähe zu stärken ist schon länger Anliegen der Jungen Kantorei Freiburg unter Christoph Andreas Schäfer. Dazu unternahm der Chor Chorreisen nach Minsk und Gomel in Weißrußland, nach Lemberg und in Heidelbergs Partnerstadt Simferopol auf der Krim. Nun führte ihn eine Konzertreise gemeinsam mit der Heidelberger Studentenkantorei vom 15. bis 22. Mai mit einem gemischten Programm aus Mendelssohns „Hymnus“, Dvořáks Messe D-Dur und Schuberts „Mirjams Siegesgesang“ erneut nach Lemberg und zum ersten Mal nach Odessa und Chişinău. Nach Auftaktkonzert und Singen im Pfingstgottesdienst in Heidelberg begab sich der Chor auf die lange Anreise mit dem Zug. Diese Art des Reisens macht zwar die geographische Entfernung spürbarer, verringert aber die „gefühlte“ Entfernung, denn freundlicher Kontakt mit Zugschaffnern, Bahnhofsvorstehern, Verkäufern von Proviant entsteht leicht. Und selbst die strenge Stimmung an der Passkontrolle im Umspurbahnhof Tschop im slowakisch-ungarisch-ukrainischen Dreiländereck löste sich, als die Ähnlichkeit einer Chorsängerin mit der ukrainischen Eurovision Song Contest-Siegerin entdeckt wurde.
Der Rynok in Lemberg
Zu Lemberg als Freiburger Partnerstadt haben beide Chöre schon gute Kontakte: Die Stadt nahe der Grenze zu Polen ist geprägt durch ihre wechselvolle Geschichte als Hauptstadt Galiziens mit Ansiedlung von Ruthenen, Polen, Deutschen, Armeniern und Juden und zeigt sich heute europäisch. Die Altstadt zählt zum UNESCO-Weltkulturerbe. Der Rynok, der zentrale Marktplatz, ist umsäumt von renovierten schmucken Bürgerhäusern des 16.-18. Jhs., ein lebendiger Treffpunkt mit Straßencafés und kleinen Geschäften. Noch vor 10 Jahren, erzählt Stadtführer Dimitri, war der Platz ein toter Ort, an dem allenfalls Kinder Fußball spielten. Lembergs Bürgermeister Sadowyj habe die Chancen der EM 2012 genutzt. Doch neben Touristen sind auch Soldaten in Uniform im Straßenbild gegenwärtig und Gedenktafeln für die Gefallenen zeigen, dass auch hier im Westen der Krieg in der Ostukraine Auswirkungen hat.
Odessa – Potjomkinsche Treppe und Hafen
In Odessa wurde der Chor gastfreundlich von der lutherischen Gemeinde aufgenommen. Die Hafenstadt am Schwarzen Meer ist Begegnungsort vieler Kulturen: Ukrainer, Russen, Juden, Moldauer, Griechen, Rumänen, Bulgaren und Türken. Und Deutsche, die sich 1811 in einer Stadtgemeinde konstituierten und Ende des 19. Jh. die heutige Kirche errichteten, an der Theophil Richter Kantor war, der Vater des Pianisten Swjatoslaw Richter. Nach Umbau zur Turnhalle und Zerstörung durch Brand in der Sowjetzeit wurde die Kirche mit Unterstützung u.a. der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern wieder aufgebaut. Die Steinmeyer-Orgel stammt aus der Nürnberger Kreuzkirche. Die Wichtigkeit und Lebendigkeit kirchlicher Kontakte betonte auch Dr. Michael Hug als Vertreter der Stadtsynode der evangelischen Kirche in Heidelberg in seiner Rede vor dem Konzert. Gerade die Musik könne als emotionale Sprache Verständigung und Nähe schaffen und gemeinsame Grundlagen spürbar machen.
Am „gap through state border“ auf dem Bahnhof
von Bender in Pridnestrowien
Wer von Odessa nach Chişinău, Hauptstadt der Republik Moldau, mit dem Zug fährt, begibt sich gänzlich außerhalb touristischer Pfade und pflegt einen Grenzverkehr, der stets vom Abbruch bedroht ist. Denn der Zug fährt durch Transnistrien/Pridnestrowien, ein schmaler Landstreifen zwischen der Republik Moldau und der Ukraine. Als nach der Auflösung der Sowjetunion in der ehemaligen Moldauischen SSR eine enge Orientierung an Rumänien erwogen wurde, spaltete sich das stärker russisch geprägte Gebiet östlich des Dnister ab und existiert nach bewaffneten Auseinandersetzungen 1992 mit Moldau als nicht anerkannter Staat in einem sogenannten eingefrorenen Konflikt und als Austragungsort strategischer Interessen größerer Mächte. Einen eisernen Vorhang zwischen Moldau und Pridnestrowien gibt es jedoch nicht. Moldauer und Transnistrier leben und besuchen sich auf beiden Seiten der Grenze.
Chişinăus Orgelsaal ist die einzige Spielstätte des Landes mit einer großen Orgel (Firma Rieger-Kloß/Prag). Die Unterstützung der Deutschen Botschaft ermöglichte das Konzert dort mit freiem Eintritt. Eine wichtige Geste, denn die normalen Eintrittspreise können sich im ärmsten Land Europas auch viele Musiker nicht leisten, wie Sergej vom Kunsthandwerkermarkt nebenan erläutert. Ein transnistrischer Konzertbesucher bedankt sich anschließend mit Postkarten seiner Zeichnungen. Es war seine erste Begegnung mit solcher Musik im Konzert. Der Chor drückte seine Dankbarkeit für die großartige Gastfreundschaft und seinen Wunsch für die besuchten Regionen und Menschen mit seiner Zugabe aus: Aus der Dvořák-Messe erklang noch einmal das innige Dona nobis pacem.
Bericht von Dorothea Eberhardt