Bach baut Brücken.
Völkerverständigung mit Händen und Füßen

Konzertreise der Heidelberger Studentenkantorei und der Jungen Kantorei Freiburg nach Belarus

 

Bilder zur Reise finden sich unter Bilder Belarus 2010.

Dieser Reisebericht und eine Pressemitteilung zur Reise sind auch als Downloads verfügbar:

   

Gottesdienst
Gottesdienst in Gomel

Der Bach-Choral ist kaum verklungen, da unterbricht Beifall die feierliche Stimmung im Gottesdienst: ein Gruß an die Fremden, die diese Musik als Gastgeschenk mit auf eine weite Reise genommen haben. Denn wir befinden uns in einer katholischen Kirche in der Stadt Gomel im Osten Weißrusslands, und es ist etwas Besonderes, wenn eine Gruppe aus Deutschland zu Besuch ist. Zum russisch-orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar haben sich zwei Chöre aus Deutschland begleitet von einem kleinen Orchester und Gesangssolisten auf die Reise nach Gomel gemacht. Gemeinsam mit dem Akademischen Chor Gomel und Musikern des dortigen Sinfonieorchesters brachten die Gäste aus Deutschland das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach zur Aufführung. Während der einwöchigen Reise fanden drei große Konzerte in Gomel, Retschyza und in der Hauptstadt Minsk statt.

Zug in Warschau
Nachtzug in Warschau

Auch zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer ist das etwa 9,7 Millionen Einwohner zählende Belarus in Deutschland kaum bekannt. Das Land ging 1991 als unabhängiger Staat aus dem Zerfall der UDSSR hervor und liegt im Osten Europas zwischen Lettland und Litauen im Norden, Polen im Westen, Russland im Osten und der Ukraine im Süden. Von Deutschland aus kann man mit dem Flugzeug oder mit der Bahn nach Belarus reisen. Die Gruppe mit gut 50 Teilnehmern aus Freiburg und Heidelberg hat sich mit dem Zug auf den Weg gemacht, sicherlich die erlebnisreichere Variante, die auch besonders vielfältige Reiseeindrücke mit sich bringt. Innerhalb Deutschlands gehört schon die Fahrt von Freiburg nach Berlin zu den Langstrecken. Für diese Reise bildete sie hingegen lediglich den Auftakt. Von Berlin brachte ein polnischer Expresszug die Gruppe bis nach Warschau, von wo es mit dem Nachtzug Richtung Minsk weiterging. Man reist im mit Plastikblumen charmant geschmückten Wagen in gemütlichen Viererabteilen, gebettet auf weinrotes Kunstleder. Zur Grundausstattung gehört außerdem ein zentraler Samowar, der traditionell mit Kohle geheizt wird, denn in dieser Weltgegend möchte niemand stundenlang auf seinen süßen schwarzen Tee verzichten. An der Grenze zwischen Polen und Belarus in Brest wird die Fahrt durch ein besonderes mitternächtliches Erlebnis unterbrochen: die Umspurung des ganzen Zuges auf die breiteren osteuropäischen Schienen. Dazu werden die einzelnen Wagenkästen samt Fahrgästen in die Höhe gehoben, und die kompletten Drehgestelle mit den Rädern ausgetauscht. Am nächsten Morgen erreichte der Zug dann die Hauptstadt Minsk. Das Umsteigen der fünfzig Ausländer mit ihren Instrumenten in den Fernzug für die letzte Etappe war ein besonderes Schauspiel im Minsker Berufsverkehr. Nach bescheidenen 33 Stunden ohne verpassten Anschlusszug war schließlich Gomel erreicht, kaum vorstellbar ohne die Unterstützung von Gleisnost aus Freiburg bei der Reiseplanung.

Noch viel weniger wäre ein solches Unternehmen aber denkbar ohne persönliche Kontakte und starkes Engagement auf beiden Seiten. Seit vielen Jahren besteht ein freundschaftlicher Austausch zwischen Dirigent Valentin Kravzow vom Sinfonieorchester Gomel und dem Kantor der Heidelberger Heiliggeistkirche Christoph A. Schäfer, der die beiden deutschen Chöre leitet. Im letzten Sommer regte Pater Slavomir Laskowsky von der römisch-katholischen Gemeinde „Unserer Lieben Frau“ in Gomel dann eine größere Reise an und sorgte für die Aufführungsmöglichkeiten in Retschyza und der katholischen Marienkathedrale in Minsk. In seiner Gemeinde nahmen die Gäste zum Auftakt am Epiphaniasgottesdienst teil, zugleich war dies der Vorabend des russisch-orthodoxen Weihnachtsfests am 7. 1. So wurde den Beteiligten auch das gemeinsame christliche Fundament in Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus über sprachliche und politische Grenzen hinweg in Erinnerung gerufen, das bei der Aufführung geistlicher Musik immer mitschwingt. In diesem Rahmen konnten der Gemeinde auch Spendengelder für ihr neues Heim für behinderte Waisenkinder überreicht werden, die beim Weihnachtskonzert in Freiburg gesammelt worden waren.

Paschtamt Minsk
Nachkriegsachitektur: Post in Minsk

In Deutschland gilt besonderer Dank für die wertvolle Unterstützung des Vorhabens dem Schirmherr Dr. h. c. Gernot Erler, MdB (Freiburg) und der Stiftung West-Östliche Begegnungen sowie etlichen privaten Spendern. Die gemeinnützige Stiftung West-Östliche Begegnungen fördert vielfältige Begegnungen mit allen Ländern der GUS und den baltischen Staaten. Insgesamt hat sie in den vergangenen 15 Jahren rund 3900 Projekte unterstützt und dafür 9,1 Mio. Euro zur Verfügung gestellt. Im Mittelpunkt der Förderung stehen die direkten Begegnungen, die als themen- oder projektbezogene Aktivitäten stattfinden. Von Beginn an war auch bei diesem Projekt von beiden Seiten gewünscht, nicht nur musikalisch zusammenzuarbeiten, sondern daneben Gelegenheit für persönliche Begegnungen zu schaffen. So wurden die meisten Gäste aus Deutschland in Gomel in den Familien der Chor- und Orchestermusiker untergebracht. Viele der Familien leben auf recht kleinem Raum, etwa mit zwei bereits erwachsenen Kindern noch zu viert in einer Dreizimmerwohnung. Und doch wird mit Freude eines der Zimmer den unbekannten Deutschen abgetreten, für die auch sonst rund um die Uhr gesorgt wird. Regelrechte Begeisterung konnte die belarussiche Küche bei einigen Teilnehmern hervorrufen. In den meisten Fällen kommen hervorragende traditionelle Gerichte auf den Tisch, die gern mit Zutaten aus dem eigenen Garten zubereitet werden. Das einzige Problem ist bei mangelnder Erfahrung, dass man als Gast eigentlich nie genug gegessen und getrunken hat. Wer schon einmal wirklich grenzenlose Gastfreundschaft erlebt hat, der vermisst nach der Rückkehr in Deutschland leicht etwas.

Gomelskaja Prawda
Bericht auf der Titelseite in Gomel

Auch das musikalische Gemeinschaftsprojekt wurde zum Erfolg. Gomel als zweitgrößte Stadt des Landes hat mehr als eine halbe Million Einwohner. Dennoch ist die Zahl der dort angebotenen Konzerte überschaubar, und auch für uns in Deutschland so geläufige Werke wie Bachs Weihnachtsoratorium sind kaum bekannt. Umso größeres Interesse riefen die gemeinsamen Konzerte hervor. Wie in Gomel spielte das Ensemble auch im deutlich kleineren Retschyza vor gut gefülltem Saal. Die Solisten Cornelia Winter (Sopran), Sibylle Kamphues (Alt), Hans-Jörg Mammel (Tenor) und Thomas Berau (Bass) überzeugten das Publikum ebenso wie das trotz kurzer gemeinsamer Probenzeit gut zusammenwirkende Orchester. Eine besondere Herausforderung für den belarussischen Chor lag im deutschen Text des Werkes, den sich die Meisten rein phonetisch aneignen mussten. Dem Publikum wurde mit kleinen Erläuterungen zu Ablauf und Inhalt der Kantaten und einer Textübersetzung ein genaueres Verständnis des fremdsprachigen Stückes ermöglicht.

Dorf im Winter
Winterliches Dorf an der Bahnstrecke

An beiden Orten konnten sich die deutschen Gäste auch über einen freundschaftlichen öffentlichen Empfang freuen. Angesichts der gemeinsamen Vergangenheit ist dies alles andere als selbstverständlich: Während des Zweiten Weltkrieges fanden auf belarussischem Gebiet überaus schwere Kämpfe statt. Die deutschen Besatzer gingen zudem mit großer Gewalt gegen Partisanen und die einheimische Bevölkerung vor. Die Hauptstadt Minsk zum Beispiel war bei Kriegsende zu etwa 95% zerstört und stellt sich heute als eindrucksvolles Beispiel sowjetischer Architektur und Stadtplanung dar. Wie auch bei den meisten Gesprächen in den Gastfamilien überwiegt inzwischen glücklicherweise Aufgeschlossenheit gegenüber dem modernen Deutschland. Beträchtlichen Anteil daran dürfte auch das langjährige Engagement deutscher Organisationen in der Tschernobyl-Hilfe haben. Besonders der südöstliche Teil des Landes gehört zu den von dem Reaktorunglück in Tschernobyl stark radioaktiv verseuchten Gebieten. Auch nach nun fast 24 Jahren leiden die Menschen unter den Langzeitfolgen der Katastrophe.

Zum Abschluss der Reise reiste das ganze belarussisch-deutsche Ensemble im dichten Schneetreiben mit zwei Bussen nach Minsk. Außerhalb der Städte prägen schier endlose Ebenen und Wälder das Bild, ein Eindruck von Weite, der sich in winterlicher Landschaft noch verstärkt. Nur hin und wieder passiert der Bus auf schneebedeckter Schnellstraße kleine Dörfer, und die erste Kurve der Strecke nach einer guten Stunde erntet großen Beifall.

Minsk, Eislauf
Eislauf am Minsker Parlament

Mit einbrechender Dunkelheit erreichten die Busse schließlich die Hauptstadt. Die sehenswerte katholische Marienkathedrale in Minsk bot beim letzten Konzert einen besonders feierlichen Rahmen. Nur wenig Zeit blieb danach zum Abschied – zu weit die Heimfahrt für die Gastgeber nach Gomel, und auch der erste Teil der deutschen Gruppe nahm am späten Abend den Nachtzug zurück nach Warschau. Glück hatten all diejenigen, die den nächsten Tag noch mit der Besichtigung von Minsk zubringen konnten und sich dann erst auf die lange Rückfahrt machten.

Der eine oder andere persönliche Kontakt, der während dieser Woche entstanden ist, wird sicher Bestand haben. Und auch die geplanten Gegenbesuche von Orchester und Chor in Deutschland im Herbst können vielleicht helfen, dass sich Menschen aus Belarus und Deutschland kennen und schätzen lernen.

Bericht von Simon Hoffmann